Die Euphorie ist oft groß: Der erste KI-Prototyp funktioniert. Die Machbarkeit ist bewiesen. Doch dann passiert – nichts. Viele KI-Initiativen im Mittelstand sterben einen leisen Tod zwischen Labor und echter Wertschöpfung. Wir analysieren die „PoC-Falle“ und zeigen, wie Sie die Brücke in den operativen Betrieb schlagen.
Künstliche Intelligenz ist im deutschen Mittelstand angekommen – zumindest in der Theorie. Die Innovationsabteilungen (oder engagierte Einzelkämpfer) haben experimentiert. Es gibt erfolgreiche Proofs of Concept (PoC): Die Bilderkennung, die Risse im Werkstück identifiziert, oder das Prognosemodell, das den Rohstoffbedarf vorhersagt. Die Präsentation vor der Geschäftsführung läuft hervorragend, alle Ampeln stehen auf Grün.
Sechs Monate später fragen Sie nach dem Projekt, und die Antwort ist ernüchternd: „Es läuft noch nicht ganz rund“, „Wir warten auf IT-Ressourcen“, oder „Die Fachabteilung nutzt es nicht“.
Dieses Phänomen ist so verbreitet, dass es einen Namen hat: die „Pilot Purgatory“ (Pilot-Fegefeuer). Gartner schätzte einst, dass bis zu 85 % aller KI-Projekte nie die Produktionsreife erreichen. Im pragmatisch orientierten Mittelstand, wo jede Investition einen klaren ROI zeigen muss, ist diese Quote fatal. Wenn die ersten zwei Projekte versanden, wird das Thema KI oft für Jahre verbrannt.
Warum ist der Schritt vom „Spielwiesen-Modus“ in den „Produktions-Modus“ so schwer? Es liegt selten an der KI-Technologie selbst, sondern meist an den organisatorischen und technischen Rahmenbedingungen.
Die 5 häufigsten Fallstricke auf dem Weg zur Produktion
Ein PoC findet unter Laborbedingungen statt. Die Produktion ist die raue Realität. Dieser Unterschied wird oft unterschätzt.
1. Die „Laptop-Illusion“ (Integrationshürden)
Viele PoCs werden isoliert entwickelt – oft auf dem leistungsstarken Laptop eines Data Scientists oder in einer abgeschotteten Cloud-Umgebung. Dort funktioniert alles perfekt. Doch der produktive Betrieb bedeutet: Das KI-Modell muss mit dem 20 Jahre alten ERP-System sprechen, Echtzeit-Daten von Maschinensteuerungen (SPS) verarbeiten und Ergebnisse direkt in die Benutzeroberfläche der Mitarbeiter zurückspielen. Der Fallstrick: Die Integrationskosten in die historisch gewachsene IT-Landschaft des Mittelstands sind oft fünfmal höher als die Entwicklung des eigentlichen KI-Modells. Wird dies nicht frühzeitig eingeplant, stirbt das Projekt an der Schnittstellen-Komplexität.
2. Datenqualität: Labor vs. Realität
Für den PoC werden oft manuell bereinigte „Golden Datasets“ verwendet. Ein CSV-Export, den jemand händisch von Fehlern befreit hat. Im Live-Betrieb muss die KI jedoch mit „schmutzigen“ Daten klarkommen: Sensoren fallen aus, Mitarbeiter tippen Fehler ins System, Datenformate ändern sich unangekündigt. Ein Modell, das im Labor 99 % Genauigkeit hatte, stürzt in der Realität auf 60 % ab und wird nutzlos. Der Fallstrick: Die Annahme, dass die Datenqualität im Alltag genauso hoch ist wie im Testdatensatz.
3. Fehlendes Betriebskonzept (MLOps)
Software, die einmal läuft, läuft in der Regel weiter. KI-Modelle nicht. Sie „altern“. Wenn sich das Kaufverhalten der Kunden ändert oder eine neue Maschine in der Produktion steht, passen die alten Trainingsdaten nicht mehr zur neuen Realität – die Vorhersagequalität sinkt (Data Drift). Wer überwacht das? Wer trainiert das Modell neu? Im Mittelstand gibt es selten dedizierte MLOps-Teams (Machine Learning Operations), die sich um Pflege und Wartung von KI-Modellen kümmern. Der Fallstrick: KI wird wie klassische Software behandelt („Fire and Forget“), statt wie ein lebendes System, das kontinuierliche Betreuung braucht.
4. Der Faktor Mensch: Fehlendes Vertrauen
Ein KI-System kann noch so präzise sein – wenn der erfahrene Meister in der Fertigung ihm nicht traut, wird er es ignorieren. Oft sind PoCs „Black Boxes“: Sie spucken ein Ergebnis aus, erklären aber nicht warum. Mittelständische Experten, die ihre Maschinen seit 30 Jahren kennen, lassen sich nicht gerne von einer undurchsichtigen Software bevormunden. Der Fallstrick: Die Endanwender werden zu spät eingebunden. Die Lösung wird „für“ sie gebaut, nicht „mit“ ihnen.
5. Kein klarer Business Case jenseits der Innovation
Manche PoCs werden gestartet, weil die Technologie faszinierend ist („Wir müssen was mit GenAI machen“). Ein PoC darf spielen. Ein Produktionssystem muss Geld verdienen oder sparen. Oft stellt sich nach dem PoC heraus, dass die Skalierung so teuer wäre (z.B. Cloud-Kosten, Lizenzen), dass der geschäftliche Nutzen die laufenden Kosten nicht deckt. Der Fallstrick: Technikverliebtheit statt kühler Kosten-Nutzen-Rechnung.
4 Strategien, um die Brücke zu schlagen
Wie können Mittelständler diese Hürden überwinden und KI erfolgreich auf die Straße bringen?
A. „Production First“ Mindset
Denken Sie das Ende vom Anfang her. Stellen Sie bereits in der PoC-Phase die unangenehmen Fragen:
- Wenn das hier funktioniert, wer wird es täglich betreiben?
- Auf welcher Infrastruktur soll es laufen? (Haben wir die nötige Cloud-Umgebung?)
- Was passiert, wenn das Modell falsche Entscheidungen trifft? (Haftungsfrage) Ein erfolgreicher PoC sollte nicht nur beweisen, dass es technisch geht, sondern auch wie es operativ gehen wird.
B. Investieren Sie in eine solide Datenplattform statt in Einzel-Lösungen
Statt für jedes KI-Projekt eine neue technische Infrastruktur zu basteln, lohnt sich der Aufbau einer zentralen Datenplattform (z.B. ein Data Lakehouse). Dies standardisiert den Zugriff auf Daten und vereinfacht den Weg von der Entwicklung in den Betrieb enorm. Wenn die Basis einmal steht, wird das zweite, dritte und vierte KI-Projekt deutlich schneller und günstiger.
C. Der „Human-in-the-Loop“-Ansatz
Gerade im Mittelstand, wo Qualität oberstes Gebot ist, sollte KI anfangs selten vollautomatisiert entscheiden. Starten Sie mit Assistenzsystemen: Die KI macht einen Vorschlag, der Mensch entscheidet. Das baut Vertrauen auf. Wenn das System zuverlässig arbeitet, kann der Automatisierungsgrad schrittweise erhöht werden. Das nimmt den Mitarbeitern die Angst, ersetzt zu werden.
D. MLOps pragmatisch etablieren
Sie brauchen kein 20-köpfiges KI-Team. Aber Sie brauchen klare Verantwortlichkeiten. Definieren Sie frühzeitig, wer für das Retraining der Modelle zuständig ist. Oft lässt sich dies durch moderne Plattformen weitgehend automatisieren, aber jemand muss die Warnmeldungen erhalten, wenn das Modell „driftet“.
Fazit: Mut zur Industrialisierung
Der Proof of Concept ist der leichte Teil. Die Industrialisierung von KI – also die Integration in die langweiligen, täglichen Prozesse – ist die eigentliche Arbeit.
Für den Mittelstand lohnt sich diese Arbeit enorm, denn hier liegen die echten Effizienzgewinne. Erfolgreiche Unternehmen feiern nicht den erfolgreichen PoC, sie feiern den ersten Tag, an dem das System im Regelbetrieb läuft und echten Mehrwert liefert. Lassen Sie Ihren Piloten nicht in der Luft verhungern – geben Sie ihm eine Landebahn.